02.05.2023

Interview mit Richterin Bettina Limperg

"Es gibt nicht die eine Gerechtigkeit"

Bettina Limperg ist Präsidentin des Bundesgerichtshofs. Und sie ist Christin. Im Interview erzählt sie, warum ihr Versöhnung so wichtig ist, wie ihr die Bibel und der Glaube in schlimmen Fällen helfen – und wie sie versucht, dem Ideal der Gerechtigkeit möglichst nahezukommen.

foto: imago
Justitia ist die Göttin der Gerechtigkeit. Sie soll das richtige Strafmaß finden, abwägen und gerecht urteilen. Foto: imago/Jan Hübner


Was bedeutet Ihr Glaube Ihnen in Ihrem Beruf als Richterin und Präsidentin des Bundesgerichtshofs?
Ich fürchte, ich muss Sie da enttäuschen: Für meine Berufsausübung spielt mein Glaube keine größere Rolle als andere Prägungen wie Erziehung und Erfahrungen. Als Richterin bin ich an Recht und Gesetz gebunden. Da ist kein Spielraum für Glauben. Meine christlichen Werte können vor Gericht nicht Maßstäbe meines Handelns sein. 

Wie geht es Ihnen damit, als Christin zu urteilen und zu richten – obwohl in der Bibel steht „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“?
Ich empfinde das nicht als Widerspruch. Ich verstehe diese Bibelstelle so, dass man sich nicht über andere Menschen erheben sollte. Dass man sie also nicht in ihrer Menschlichkeit verurteilen soll. Das halte ich für richtig. Als Richterin urteile ich über Taten, die Menschen begangen haben. Aber ich urteile nicht über die Menschen selbst und ihre Würde. 

Was heißt das für Sie in Ihrem beruflichen Alltag noch: sich nicht über andere zu erheben?
Das heißt: Es steht mir nicht zu, einen Menschen in einem Verfahren moralisch zu verurteilen oder einen Sachverhalt nach moralischen Kriterien zu bewerten. „Wie kann man denn nur!“ ist keine rechtliche Kategorie.

Gelingt Ihnen das immer: diesen Satz nicht einmal zu denken?
Nein. Als Person denke ich schon manchmal: „Meine Güte, da hätte man doch nun wirklich mal …“ Aber als Richterin darf ich das eben nicht zum Maßstab meines Handelns machen. Natürlich wundere ich mich hier und da. Aber dann muss ich dieses Gefühl schnell wieder vergessen – und sachliche Fragen stellen, die für eine Urteilsfindung zielführend sind.

In welchen Situationen ertappen Sie sich dabei, dass Sie doch mal denken: „Meine Güte …“?
Wenn Menschen immer wieder dieselben Fehler machen. Beispielsweise Menschen, die von ihrer Sucht nicht loskommen. Oder Frauen, die sich immer wieder die falschen Männer aussuchen und von jedem neuen Partner geschlagen werden. Das hat etwas Tragisches, und es ist traurig, das zu erleben. Aber jeder weiß ja selbst: Es ist gar nicht so einfach, ein Verhaltensmuster zu durchbrechen und eine Verhaltensveränderung zu schaffen. Das merkt man ja schon, wenn man versucht, in der Fastenzeit sechs Wochen auf Kleinigkeiten zu verzichten. 

Inwiefern können Sie mit Ihren Urteilen Gerechtigkeit schaffen?
Für mich ist Gerechtigkeit keine Punktlandung, die ich schaffen kann. Es ist mehr ein Prozess, ein Streben, ein Suchen. Gerechtigkeit ist ein Wert, von dem ich weiß, dass ich ihm möglichst nahekommen sollte, aber den ich nie vollständig und schon gar nicht für alle gleich erreichen werde.

Warum nicht?
Je nachdem, von welcher Seite und mit welchen Vorstellungen eine Partei in einem Rechtsstreit auf ein Problem schaut, findet sie das eine oder das andere Urteil gerechter. Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf Gerechtigkeit sind zwangsläufig.

Inwiefern hat sich Ihr Verständnis von Gerechtigkeit im Laufe der Jahre verändert?
Mein Gerechtigkeitsbegriff hat sich zunehmend aufgefächert. Ich sehe jetzt deutlicher, dass es verschiedenste Formen der Gerechtigkeit gibt. Etwa eine materielle Gerechtigkeit und eine Verfahrensgerechtigkeit. Es hat auch etwas Entlastendes, wenn man nicht nach der einen Gerechtigkeit suchen muss. 

Können Sie das für sich akzeptieren, dass es die eine, allumfassende Gerechtigkeit nicht gibt?
Das kann ich gut akzeptieren. Ich darf aber natürlich nicht aufhören, nach der Gerechtigkeit zu suchen, nach ihr zu streben. Ich darf nicht sagen: Naja, dann lassen wir es halt laufen. 

Wie versuchen Sie, der Gerechtigkeit nahezukommen?
Indem ich als Richterin versuche, alle relevanten Aspekte wahrzunehmen und die Menschen ausreichend zu Wort kommen zu lassen. Ich muss ihnen Gehör verschaffen. Oft sind sie schon zufrieden, wenn sie ihren Standpunkt vortragen konnten und gesehen haben, dass er verstanden worden ist. Selbst wenn sie mit diesem Vortrag keinen Erfolg haben, sagen sie manchmal: „Vielen Dank! Ich kann das jetzt akzeptieren. Und es war wichtig für mich, dass ich das mal loswerden konnte.“ 

Schön, oder?
Ja. Das ist für viele schon ein Zeichen von Gerechtigkeit: dass ihr Standpunkt nicht einfach beiseitegewischt worden ist. Noch schöner ist, wenn es dann auch noch gelingt, Menschen dazu zu bringen, dass sie einander zuhören und ihre unterschiedlichen Standpunkte stehenlassen können. 

Merken Sie das oft: dass zwischen Beteiligten, die sich vorher spinnefeind waren, etwas wächst?
Ja. Das erleben vor allem Richterinnen und Richter am Amtsgericht und Landgericht ganz oft. Deswegen wird auch häufig das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet. Wir wollen ja nicht nur mit den Juristen reden, sondern mit den Menschen, die dieser Streit angeht. Diese Menschen haben sich oft längere Zeit gar nicht mehr gesehen. Da haben nur noch die Anwälte gestritten und dadurch ist der Sachverhalt zugespitzter oder pointierter dargestellt. Wenn die Leute dann zusammen vor dem Richtertisch stehen und sich einfach mal wieder austauschen, kann das viel verändern. 

Inwiefern?
Es kann gelingen, dass man aus der Schwarz-Weiß-Ecke wieder herauskommt. Dass jeder merkt, dass seine Version auch nicht ganz vollständig ist – und dass der andere auch ein bisschen recht hat. Häufig zeigt sich, dass die Menschen gar nicht so weit auseinander liegen. Und es wird klar, worum es den beiden Parteien wirklich geht. Das ist dann vielleicht gar nicht mehr der Kern des Prozesses, sondern ein ganz anderes Thema. Und über das können sie dann reden. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Bei Nachbarschaftsstreitigkeiten zum Beispiel geht es oft nicht nur um die Hecke, die zu hoch oder zu niedrig ist oder einen Meter zu weit hier oder dort steht. Sondern es geht vielleicht darum, dass der eine total ordentlich ist und der andere eine Biowiese hat. Das sind Lebensentwürfe, die da aufeinanderprallen. Und die Hecke ist nur das Symbol für diesen Konflikt.

Wie kann ein Gericht da zur Versöhnung beitragen?
Häufig macht man als Gericht einen Ortstermin. Und wenn man dann da an der Grundstücksgrenze steht, versteht man sofort: Ah, okay, da geht’s jetzt gar nicht nur um die Hecke. Sondern es geht auch um das Grillen, den Lärm der Kinder oder den Parkplatz. Wenn man daraus dann eine Gesamtregelung machen kann und Toleranz wächst, sind oft alle sehr zufrieden. Dann herrscht sozusagen Rechtsfrieden.

Sehen die Leute selbst oft auch erst bei diesem Ortstermin, dass das hinter dem Streit stehende Lebenskonzept das eigentliche Problem ist? 
Ja, manchmal brauchen sie einen Vermittler, der das ausspricht. Und schon entlädt sich was und sie können über ihren Streit sogar auch mal lachen. Sie kommen raus aus ihren Verhärtungen. Sie schauen nach vorne – und nicht immer nur nach hinten. Sie fragen nicht mehr nur, was war. Sondern sie überlegen: Wie wollen wir es denn in Zukunft haben? Und sie verabreden Regeln dazu. Wir sind da als Gericht auch Mediatoren. Wir kommen nicht nur mit Paragrafen, wir wollen wirklich eine Verständigung erreichen.

Foto: Anja Köhler
Bettina Limperg ist Präsidentin des 
Bundesgerichtshofs.
Foto: Anja Koehler/andereart.de

Es muss befriedigend sein, wenn das gelingt, oder?
Ja, das sind schöne Momente. Das Gericht soll ja in jeder Phase des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinwirken, weil wir wissen: Das, was die Leute selbst vereinbaren, ist das Wirkungsvollste. Und die Parteien sind nach einer gütlichen Einigung oft sehr viel zufriedener, als wenn der Prozess streitig, also durch ein Urteil, endet. Auch die Anwälte sind damit häufig glücklich. Weil sie natürlich auch wissen, dass die Wahrheit meistens in der Mitte liegt. So wie es nicht die eine Gerechtigkeit gibt, so gibt’s eben auch nicht die eine Wahrheit. 

Woran merken Sie im Laufe eines Verfahrens noch, dass Sie dem Ideal der Gerechtigkeit möglichst nahegekommen sind?
Das merke ich, wenn ich am Ende den Eindruck habe, dass nichts ungesagt geblieben ist und dass eine Regelung gefunden wurde, von der ich hoffe, dass sie nachhaltig ist. Dass also wirklich eine Art Versöhnung, eine Art Frieden eingetreten ist. Und dass die Leute es wieder schaffen, vernünftiger miteinander umzugehen – weil sie etwas verstanden haben, das ihnen vorher so nicht klar gewesen ist.

Merken Sie auch manchmal, dass Sie die Versöhnung und die Gerechtigkeit, die Sie anstreben, nicht gefunden haben?
Ja, das gibt es, wenn ich Verhärtungen nicht lösen kann oder den Zugang zu den Menschen nicht finde. Das ist dann sehr unbefriedigend. Wirklich schlimm habe ich es im Strafrecht erlebt, wenn Menschen sich scheinbar unentrinnbar in ewige Geschichten der Wiederholung verstrickt haben. Also wenn ein Mensch, der als Kind Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden ist, später zum Täter wird. Wenn er Muster gelernt und so tief verinnerlicht hat, dass er aus denen nicht herausfindet. Solche Fälle gehen mir schon nahe. Da bleibe ich manchmal ein bisschen ratlos und hilflos zurück. Weil alles so ausweglos und schicksalhaft erscheint. 

Hilft Ihnen in solchen Momenten Ihr Glaube?
Wenn ich ehrlich bin: nein. Solche Schicksale sind schlimm und sie bleiben schlimm. Und ich muss gestehen: Ich persönlich glaube auch nicht, dass irgendwann schon alles gut wird oder dass es eine höhere Gerechtigkeit geben wird, in der sich alles auflöst. Da finde ich keinen Trost. Ich kann nur versuchen, das auszuhalten. Dabei hilft mir der Glaube dann schon eher – als eine Technik der Entlastung. 

Und die Perspektive, dass nach dem Tod noch etwas kommt – inwiefern hilft die Ihnen in solchen schlimmen Fällen?
Ich bin da vielleicht nicht glaubensfest genug. Ich finde es extrem schwierig, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass etwas spätestens im Himmel ein gutes Ende nimmt. Eine solche Perspektive würde ich einer gequälten Kreatur nicht zumuten. Es klänge wie eine Ausrede, um das Schlimme auf der Welt zu erleichtern. Nach meiner festen Überzeugung ist es unser Auftrag als Menschen, auf der Erde für größtmögliche Gerechtigkeit zu sorgen. 

Sie haben gesagt, der Glaube hilft Ihnen eher beim Aushalten. Wie funktioniert dieses Aushalten – auch bei schlimmen Fällen?
Es gibt Verzweiflung und Trostlosigkeit, die sich nicht wegbeten lässt. Ich habe aber Techniken entwickelt, um solche Fälle zu verarbeiten. Dabei können der Glaube und ein Gebet helfen. Oder ein Gang in die Stille. Und die Bibel ist ja auch ein sehr kluges Buch. Darin finde ich vieles, das mir Hoffnung gibt, dass man das Schlimme tragen kann. Das hilft mir.

Welche Bibelstellen sind das, die Ihnen helfen?
Das Buch Hiob zum Beispiel ist ein Wahnsinnswerk. Es erzählt von tiefster Verzweiflung, von Verführungen, von Grenzerfahrungen, die man fast nicht aushalten kann. Es hilft mir, wenn ich lese, dass es auch anderen so gegangen ist wie manchen Menschen, die mir im Gericht begegnen. Ich weiß dann, dass sie nicht ganz allein sind in ihrem Leid. 

Was genau lernen Sie aus dem Buch Hiob?
Für mich ist die Quintessenz dieser Geschichte, dass es an uns Menschen liegt, Lösungen für die Probleme dieser Welt zu finden, aus unseren Tälern wieder herauszukommen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Wir können das nicht Gott überlassen. Er hat uns den Auftrag gegeben, auf dieser Erde zu wirken und an dem Elend zu arbeiten, das uns anspringt. Vielleicht ist mein Glaube an diese Botschaft auch der Grund, warum ich an dem Gedanken von der himmlischen Gerechtigkeit nicht so wirklich hänge. 

Treibt dieser Arbeitsauftrag Sie in Ihrem Beruf an?
Ich glaube: ja. Ich habe das zwar erst spät verstanden, aber tatsächlich ist es mein Antrieb, viel von dem zurückzugeben, was ich an Gutem erfahren habe. Ich bin mir sehr bewusst, was für ein Privileg und für ein Geschenk es ist, in dieser Zeit und an diesem Ort wirken zu dürfen. Und ich will viel von dem weitergeben, was ich für mich als gerecht und gut empfinde.

Woher kommt dieser Gerechtigkeitsantrieb?
Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Ich weiß es nicht. Es hat da keine Initialzündung gegeben. Ich habe als Schülerin die Welt des Rechts durch einen Kurs kennengelernt und fand es extrem spannend, dass es für vieles so gute Regeln gibt. 

Warum hat Sie das fasziniert?
Ich sehe Recht vor allem als Schutz gegen Gewalt durch Stärkere. Man sieht ja, wie es in Gesellschaften zugeht, in denen es keine funktionierende weltliche Gerechtigkeit gibt. Wie ausgeliefert man dort irgendwelchen Gruppen und finsteren Mächten sein kann. Dieses Ausgeliefertsein finde ich unerträglich. Mir ist extrem wichtig, dass das Recht die Menschen mit ihren Ansprüchen schützt.

Interview: Andreas Lesch

 

Zur Person: Juristin und Christin

Bettina Limperg (63) ist seit 2014 Präsidentin des Bundesgerichtshofs. Zuvor war sie lange Richterin in Stuttgart und Amtschefin des Justizministeriums Baden-Württembergs. Die gebürtige Wuppertalerin stammt aus einer evangelisch-freikirchlichen Familie. Im Alter von 33 Jahren ließ sie sich evangelisch taufen. Heute ist sie Mitglied der württembergischen Landeskirche. Beim Ökumenischen Kirchentag 2021 in Frankfurt war sie evangelische Präsidentin; ihr katholisches Pendant war Thomas Sternberg, damals Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.