12.11.2013
Berichte aus der Hölle
Wer war Täter in der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie? Wer trug Verantwortung? Fragen, die der erste Auschwitzprozess (1963–65) in die deutsche Gesellschaft trug. Jetzt sind viele der Zeugenaussagen des damaligen Prozesses online nachhörbar. Es sind unfassbare Tondokumente.
„Aussteigen! Aussteigen!“, sind die ersten Worte, die Mauritius Berner hört, als er in der Hölle ankommt. Das Erste, was er von ihr sieht, als die Türen des Waggons aufgeschoben werden, ist ein verlassener Zug, vor dem sich Tausende von Koffern und Taschen stapeln. „Männer nach rechts, Frauen nach links“, schallt es ihm, seiner Frau und seinen drei Töchtern entgegen. Schnell sind sie getrennt. Sie können sich nicht mal verabschieden. Seine Frau schreit ihm zu: „Komm zurück, küsse uns.“ Er rennt noch mal rüber, umarmt sie, küsst sie. Er sieht sie nie wieder.
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Über 350 Zeugen sagten beim ersten Auschwitzprozess |
Zwanzig Jahre später, es ist der 17. August 1964, sitzt der Arzt Mauritius Berner vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main. Er ist einer der Zeugen, die beim ersten Auschwitzprozess aussagen. Ein Tonband läuft mit, als Mauritius Berner davon erzählt, wie er und seine Familie im Konzentrationslager Auschwitz ankamen. Wie sie unter den Augen von Dr. Mengele und dem Apotheker Victor Capesius auf der Rampe selektiert wurden. Nicht nur Berners Aussage wird aufgezeichnet. Bei vielen der Zeugen läuft damals das Tonband mit. Eine Seltenheit. „Zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts“, wie der Richter zu den Zeugen sagt.
Bei der Größe des Auschwitzprozesses nachvollziehbar. Bis heute ist es der größte Strafprozess der Nachkriegsgeschichte geblieben. In Zahlen ausgedrückt: drei Richter, sechs Geschworene, vier Staatsanwälte, 19 Verteidiger, 22 Angeklagte, 200 Reporter, eine 700 Seiten dicke Anklageschrift, 75 Aktenbände Beweismaterial, 357 Zeugen.
Die Tonbänder vor dem Schredder gerettet
Der Auschwitzprozess bildete einen Wendepunkt, wie in Deutschland mit den nationalsozialistischen Verbrechen umgegangen wurde. „Bis zu dieser Zeit war Auschwitz ein unbekannter Begriff. Auschwitz war tabu, man redete nicht darüber“, sagte Hermann Langbein, Schriftsteller und selbst KZ-Häftling in Auschwitz. Jetzt war das anders. Vor einem deutschen Gericht erzählten die Überlebenden, was ihnen widerfahren ist.
Als der Prozess endete, sollten die Tonbänder zerstört werden, doch der hessische Justizminister Lauritz Lauritzen rettete sie vor dem Schredder. Zum Glück. Denn heute, fast fünf Jahrzehnte später, und nachdem die Zahl der Zeitzeugen immer kleiner wird, sind die Aufnahmen zu wichtigen historischen Dokumenten geworden.
Seit wenigen Wochen sind diese Tondokumente nun für jedermann nachhörbar. Das Fritz-Bauer-Institut hat die Mitschnitte aufbereitet und auf der Seite www.ausschwitz-prozess.de online gestellt. Es sind dabei nicht nur die Aussagen der Überlebenden. Zu hören sind auch Anwälte, Gutachter, Angeklagte, deren Angehörige oder ehemalige SS-Leute, die schon verurteilt wurden.
Hört man von dem Leid, das die Überlebenden erfahren haben, von den Gräueln, die ihnen widerfahren sind, ist es umso erstaunlicher, wie fest und oft auch hell ihre Stimmen klingen. Und das, obwohl die Täter von damals nur wenige Meter entfernt von ihnen saßen. Manche der Angeklagten befragten sogar selbst die Zeugen. Und manche sagten ihnen sogar direkt ins Gesicht: „Das ist nicht wahr.“
Bei seiner Aussage stockt Mauritius Berner nur einmal die Stimme. Er wird gefragt, ob er wusste, welches Schicksal seine Frau und seine Töchter treffen sollte. „Nein, wenn ich das geahnt hätte, wäre ich mitgegangen.“
Ihr Webreporter Daniel Gerber