15.04.2015
Kommentar
Das muss nicht sein?
Von Susanne Haverkamp
„Das muss doch heute nicht mehr sein!“ Das hören werdende Eltern, die erfahren haben, dass das Kind, das sie erwarten, eine Behinderung hat. Wer das Kind dennoch bekommen möchte, muss sich verteidigen: gegen den Frauenarzt, gegen Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Wenn es nicht mehr sein muss, dann sollte es auch nicht mehr sein. Das Schicksal des werdenden Kindes spielt dabei keine Rolle, ob es wohl glücklich würde trotz Behinderung. Eher geht es um das (angebliche) Glück der Eltern – und um die zu erwartenden Belastungen für Krankenkassen und Steuerzahler.
Dieses Beispiel ist bereits Realität. Und es zeigt, wohin es in der „Sterbehilfe“ gehen kann: um genau diesen Satz: Das muss doch heute nicht mehr sein. Das muss doch nicht sein, dass jemand todkrank die Kassen belastet. Dass das bevorstehende Erbe für zusätzliche Pflegekräfte aufgebraucht wird. Dass die Familie sich monatelang kümmern muss ohne Aussicht auf Besserung. Und was nicht sein muss, das soll auch irgendwann nicht mehr sein. Ausgesprochen oder unausgesprochen. Mit äußerem oder innerem Druck. Auch hier würde das Schicksal der Kranken nur vordergründig eine Rolle spielen; eigentlich ginge es allzu oft um die Interessen der Angehörigen, der Sozialkassen, der Erben.
Das Beispiel der erlaubten Abtreibung behinderten Lebens zeigt, wie wichtig es ist, dass die „Tötung auf Verlangen“ verboten bleibt. Und dass organisierte oder gar kommerzielle „Hilfe“ zum Töten ausdrücklich verboten wird. Denn solange etwas rechtlich verboten ist, solange ist es nicht „normal“, ist es nicht „gesellschaftlich anerkannt“, ist es keine legitime Option für alle.
Das bedeutet nicht, dass einzelne Leidende, die in ihrem Gewissen eine vielleicht sogar objektiv falsche Entscheidung getroffen haben, moralisch zu verurteilen sind. Wer will ein Urteil fällen über Extremsituationen? Die Zeit, dass die Kirche etwa Menschen, die sich selbst ihr Leben nehmen, geächtet, ihnen das Begräbnis verweigert und sie „in die Hölle befördert hat“, sind zum Glück vorbei. Aber extreme Situationen und individuelle Entscheidungen können keine Grundlagen für Gesetze sein – in keine Richtung: weder heroisch ertragenes Leid noch selbstgewählte „Erlösung“.
Wenn deshalb im Herbst der Bundestag über ein Gesetz zum Sterben entscheidet, dann darf nicht der Einzelfall im Mittelpunkt stehen, sondern das gesellschaftliche Signal. Und das darf auf keinen Fall wie bei der Behinderung lauten: „Das muss doch heute nicht sein!“