10.03.2016

Fastenserie

Den Neuanfang suchen

Ein geistliches Werk der Barmherzigkeit: Bereitwillig verzeihen

Ein Wahnsinn. Der Mann wird gerade umgebracht. Brutal. Mit Steinen totgeworfen. Eine besonders grausame Hinrichtungsart. Und sie kann dauern. Stunden. Ein wütender Mob, der den wehrlosen Mann töten will. Und der? Vergibt seinen Peinigern. „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“, ruft Stephanus, der erste christliche Märtyrer. Damit tritt er in die Fußstapfen dessen, den er verkündet: Jesus selbst bittet im Todeskampf um Vergebung für seine Henker. „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Bereitwillig vergeben. Wohl eins der schwersten Werke der Barmherzigkeit. Aber eins, das Jesus selbst häufig betont. Nicht nur am Kreuz. Siebenundsiebzigmal soll man vergeben, belehrt er Petrus. Auch im Gebet Jesu findet sich das Thema: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Ich war noch nie in Stephanus’ Lage. Mördern verzeihen? Das Problem stellt sich eher selten. Wer das schafft – Hochachtung! Fangen wir kleiner an. Bei Streitereien, Verletzungen, Übergriffen, die weit unterhalb jeder Straftat liegen. Ich soll vergeben, wenn mir jemand Übel wollte? Mich beleidigt hat? Belogen? Betrogen? Schwierig. Dem verzeihen? Der mir so viel angetan hat? Nie. Der kann mir gestohlen bleiben. Doch Hass vergiftet. Fesselt, lässt nicht zur Ruhe kommen.

Bringt etwa die Todesstrafe für einen überführten Mörder irgendein Opfer zurück? Befriedigt Rache? Die Beleidigung, die ich meinerseits meinem Kontrahenten entgegenschleudere? Vielleicht für einen kurzen Moment. Aber dann kommt ein schaler Beigeschmack. Nichts ist gut. Wird gut. Alles ist vielleicht sogar schlimmer geworden. Im Kleinen – in der Familie – oder im Großen, zwischen Nationen.

Im Kopf kann ich das vielleicht noch verstehen. Aber das Gefühl sträubt sich. Vergeben? Einfach so? Das ist das Revolutionäre am Beispiel Jesu: Er durchbricht den allzu menschlichen Kreislauf, lebt, nein: stirbt uns vor, wie das geht. Wir müssen raus aus der Spirale von Missgunst, Hass und Gleichgültigkeit. Vergeben heißt ja nicht, das Verhalten des anderen gutzuheißen, sondern einen Neuanfang zu machen: Was du getan hast, rechne ich dir nicht an. Die Tat, die Verletzung – es gab sie, ich kann sie nicht rückgängig machen. Aber sie bestimmt nicht unsere Beziehung heute. Besonders schwer ist das, wenn der andere mir so gar nicht entgegenkommt, keine Schuld eingesteht, keine Wiedergutmachung anstrebt.

Andersherum: jemandem vergeben, der eigene Fehler einsieht? Kein echtes Problem.
„Herr, hilf mir zu verzeihen, auch wenn es mir schwerfällt. Hilf mir, nicht aufzurechnen, wer wem was angetan hat.“ Maßnehmen am Beispiel Jesu hilft. Ihn um Hilfe und Beistand zu bitten. Und Übung – immer wieder versuchen, dem anderen zu verzeihen. Schritte aufeinander zu gehen. Immer wieder selbst den Neuanfang suchen. Ohne Bedingungen. Siebenundsiebzigmal.

Von Ulrich Waschki