27.09.2013
Migrationsexperte über die europäische Asylpolitik
Eine Politik der Abwehr
Wieder einmal hat sich im Mittelmeer ein Flüchtlingsdrama abgespielt. Mehr als 100 Flüchtlinge starben. Klaus Barwig ist Referent für Migration an der Katholischen Akademie in Stuttgart. Im Interview erläutert Barwig, was Europa an seinen Außengrenzen falsch macht.
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Ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen im Mittelmeer |
Herr Barwig, wie würden Sie die europäische Politik an seinen Außengrenzen beschreiben?
Die Devise „Abwehr“ ist nach wie vor das Prinzip europäischer Flüchtlingspolitik. Die führt dazu, dass Menschen tausendfach im Mittelmeer unter den Augen der Grenzschutzorganisation FRONTEX und der „internationalen Gemeinschaft“ umkommen. Hier läuft definitiv etwas falsch.
Was läuft alles falsch?
Viele Flüchtlinge werden in die Lager nordafrikanischer Mittelmeer-Anrainerstaaten "verlagert". Oder die Flüchtlinge sitzen durch das Dublin-System im „Erstaufnahmestaat“ fest, weil es keinen legalen Zugang nach Europa gibt. Von gemeinsamer Aufnahme- und Verteilungspolitik ist Europa noch weit entfernt. Gerade die am meisten betroffenen Aufnahmegebiete im Mittelmeer müssen sich derzeit alleingelassen vorkommen. Viele europäische Grenzländer wie Malta oder Griechenland sind durch die Flüchtlinge überlastet. Sie müssten solidarisch in der EU entlastet werden.
Warum baut sich Europa denn zu einer Festung aus?
Weil in Europa die Sorge besteht, dass Demokratie, innerer Frieden und relativer Wohlstand in Gefahr geraten, wenn es diesen Menschen erleichtert würde, einzuwandern. Europa kennt im Gegensatz zu anderen wohlhabenden Regionen in der Welt keine aktive Zuwanderungspolitik gegenüber Drittstaaten. Damit wächst der Zuwanderungsdruck über den verbliebenen Weg der Asylsuche. Und solange diese Engführung besteht, wird sich bei weltweit steigendem Auswanderungsdruck die Abwehrspirale weiter drehen.
Ist die Angst vor einer "Migrationsschwemme" oder einer "Überfremdung" denn gerechtfertigt?
Von Überschwemmung kann keine Rede sein: Auch wenn die Flüchtlingszahlen derzeit wieder steigen, gehört Deutschland nicht zu den hauptbetroffenen Regionen: Bezogen auf die jeweilige Wohnbevölkerung hat die Schweiz derzeit viermal mehr Flüchtlinge aufgenommen. Um also die Maßstäbe nicht zu verlieren: Im weltweiten Vergleich haben wir es in Europa immer noch recht komfortabel. Also bleiben wir entspannt und machen uns höchstens darüber Sorgen, dass diese Belastungen, die einige Regionen wie beispielsweise die syrischen Nachbarländer zu tragen haben, neue Destabilisierungs-Potenziale darstellen.
In einem anderen Interview sagten Sie mal, es gebe "keine Alternative zur Öffnung". Wie müsste man so eine Öffnung gestalten?
Eine Folge der Abschottungspolitik ist, dass wir nur wenige Integrationsmaßnahmen für Flüchtlinge anbieten. Hier gälte es, viel stärker bei den mitgebrachten Ressourcen dieser Menschen anzusetzen – insbesondere wenn sie mit unterbrochenen Schullaufbahnen bei uns ankommen. Hier darf keine Zeit verloren werden und Flüchtlingsaufnahme und Einwanderungspolitik müssen stärker miteinander verknüpft werden. Ein erstes positives Beispiel hierfür ist in Deutschland die Möglichkeit, eine im Ausland erworbene Berufsqualifikation anerkennen zu lassen.
Sie sagten vorher, dass die europäischen Grenzländer entlastet werden müssten, wie könnte das gemacht werden?
Zum Beispiel über das Resettlement-Programm (siehe Infokasten unten). Das Programm hat die Bundesrepublik in jüngerer Vergangenheit vorbildlich praktiziert: 2009 entschloss sich Deutschland zum Beispiel, 2.500 Iraker außerhalb des Asylverfahrens direkt aufzunehmen. Das Programm gilt es massiv auszubauen.
Welche Signale könnten beim Thema Flüchtlingspolitik noch von Papst Franziskus kommen?
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Klaus Barwig |
Wir müssen das Gewissen speziell in unseren westlichen und wohlhabenden Gesellschaften auf die Gegebenheiten schärfen, dass wir alle in einer Welt leben und dass der Wohlstand der einen mit der Armut der anderen durchaus zu tun hat: Gerechtigkeit und Solidarität sind die zentralen Anliegen dieses Papstes. Die sich auf christliche Traditionen berufenden Kräfte in unseren Gesellschaften könnten sich davon herausgefordert fühlen. Hier liegt die Chance des Papstes – auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit unserer Kirche. Und dass er die Flüchtlinge in Lampedusa besucht hat, ist weltweit wahrgenommen worden. Von diesem Papst wird noch viel zum Dilemma von ökonomischen Interessen und der Wahrung der Menschenrechte zu hören sein. Es bedarf keiner Hellseherei, um zu wissen, worauf der Papst sein moralisches Gewicht legen wird.
Interview: Daniel Gerber und Stefanie Thölken
Info:
Dublin-System:
Das Dublin-System (Dublin-II-Verordnung) ist das Asylzuständigkeitssystem der EU. Der Staat, auf dem der Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betritt, ist für das Asylverfahren zuständig.
Resettlement-Programm:
Resettlement bezeichnet die dauerhafte Ansiedlung von Flüchtlingen in Drittstaaten, organisiert von dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR. Ziel ist es, dass die Flüchtlinge sich dort dauerhaft niederlassen und integrieren.