10.03.2016

Fastenserie

Sie haben ein großes Herz

Gibt es wirklich Menschen in unserem Land, die nichts zu essen haben, die hungern? Für die Schwestern von Mutter Teresa in Chemnitz ist das keine Frage. Sie bieten in ihrer Suppenküche an sechs Nachmittagen der Woche eine warme Mahlzeit an. Willkommen ist jeder. Ausnahmslos, bedingungslos.

 

Gemüseeintopf steht auf dem Speiseplan. Schwester Rosepunita füllt die Teller.                                Fotos: Gert Friedrich

Es ist Freitag, 9.30 Uhr. In einem kleinen Saal schneiden zwei Frauen Paprika, Möhren und Blattsalat. Sie sprechen Russisch miteinander. Eine dritte Frau sitzt daneben an einem anderen Tisch und schält Kartoffeln. Seit neun Uhr sind sie schon da und bereiten den Gemüseeintopf vor, der am Nachmittag hier ausgeteilt werden soll.

Durch das Fenster können sie den Chemnitzer Hauptbahnhof sehen. Nur eine Straße trennt das Haus der Schwestern von Mutter Teresa vom Bahngelände. Die Suppenküche der Schwestern öffnet jeden Nachmittag, außer donnerstags. „Jeden Tag kommen so viele Menschen zum Essen. Ich habe gesehen: Das ist so viel Arbeit für die vier Schwestern – sie brauchen Hilfe.“ Für Tamara Rasina ist es anscheinend selbstverständlich, hier mitzumachen. Sie kommt aus Russland, seit 2003 lebt sie in Deutschland. Swetlana, die ihr gegenüber schnippelt, stammt aus der Ukraine, Marianna Shabanaj am anderen Tisch aus Albanien. Die drei helfen dreimal in der Woche. Sie arbeiten flink, sind gut gelaunt. „Zu Hause wenig Arbeit“, sagt die Frau aus der Heimat von Mutter Teresa. Und fügt etwas später hinzu: „Schwester spricht mit tutti people gut.“ Mit allen Menschen.

Marianna Shabanaj (vorn) und Tamara Rasina schnippeln Gemüse.

Bald duftet es nach Gemüseeintopf. Die Mahlzeit für den Nachmittag köchelt nebenan in einem großen Topf. In der Küche sind drei Schwestern am Werk, schneiden Gemüse und rühren mit einem meterlangen Löffel um. Alles, was unters Messer und in den Topf kommt, wurde gespendet. Die Kartoffeln stammen noch von Erntedank. Das meiste bekommen die Schwestern für die Suppenküche von Gemeinden und der Chemnitzer Tafel. An manchen Tagen kaufen sie auch etwas von Geldspenden.

 

Zwei dicke Decken halten die Suppe im Topf warm

Kurz vor 11 landet das letzte Stückchen Kürbis in der orangefarbenen Plasteschüssel. „Ist das alles, Oberschwester?“, fragt Tamara Rasina. Schwester Pauline nickt. Nach wenigen Minuten sind die Tische abgewischt und die Abfälle am Boden weggefegt. Zwei dicke Decken sollen die Suppe im Topf warmhalten bis zum Nachmittag.

14.45 Uhr wartet eine kleine Menschentraube bereits vor dem Seiteneingang. Im Erdgeschoss hat die „Helferschicht“ gewechselt. Konrad Tischendorf ist Rentner und freut sich, wenn er ein bisschen zupacken kann. Horst-Günter Hennig halbiert in der Küche Pfannkuchen, Donuts und anderes Gebäck und legt die Portionen auf Servietten. Er versucht, jeden Tag nach der Arbeit vorbeizukommen und den Schwestern etwas Arbeit abzunehmen, und sagt: „Zwei Monate lang ist mir hier geholfen worden. Das kann man zwar nicht gutmachen. Aber man kann selbst helfen.“

Pünktlich 15 Uhr wird die Seitenpforte geöffnet. Einige Gäste gehen zügig zu einem Tisch, andere lassen sich Zeit. Zunächst gibt es noch größere Lücken an den sechs Tafeln. Doch nach und nach füllen sie sich. Am Ende ist der Saal mit knapp 60 Stühlen aus DDR-Zeiten so gut wie voll. Die Suppe bleibt aber vorerst im Topf.

An einem Tisch sitzen Frauen und Männer im mittleren Alter. Sie quatschten über dies und das, unter anderem über das Fußballderby zwischen Chemnitz und Dresden. Am Fenster warten junge Männer mit Kapuzenjacken auf das Essen. Der Mann am Nachbartisch mit dem langen grauen Bart und Basecap könnte ihr Opa sein. Viele schweigen. Ein jüngerer Mann mit Mütze hat die Augen geschlossen.

Kurz vor halb vier geht eine Schwester von Tisch zu Tisch und verteilt kleine Faltblätter. Auf der Vorderseite ist Jesus zu sehen. Im Inneren ist der Rosenkranz zur Barmherzigkeit Gottes abgedruckt. Ein Mann mault: „Ich bin Atheist. Rosenkranz? Da dann viel Spaß!“ Die Schwester geht in aller Ruhe weiter. Und als die Oberin mit dem Vaterunser beginnt, ist es mucksmäuschenstill im Raum.

Wenn das Geld nicht mehr reicht am Monatsende

„Durch Sein schmerzvolles Leiden habe Erbarmen mit uns und mit der ganzen Welt.“ 50-mal wird diese Bitte gesprochen, wie sonst das Ave-Maria. Eine alte Frau betet im Stehen mit. Alle anderen Gäste sitzen da, manche in sich gekehrt, manche äußerlich teilnahmslos, aber keiner stört. Wer öfter kommt, weiß, dass immer am Anfang gebetet wird. Nur freitags in der Fastenzeit dauert es beim Rosenkranz etwas länger. Bei „Komm, Herr Jesus …“ am Schluss stimmen einige Gäste mit ein.
Nach dem Amen wird der Deckel vom Topf genommen. Schwester Rosepunita füllt die tiefen Teller ohne Hektik mit einer großen Schöpfkelle. Die Warteschlange ist im Nu verschwunden. Es klappert im Saal. An der Wand hinter Schwester Rosepunita hängt ein Kruzifix und daneben steht in dicken schwarzen Buchstaben: MICH DÜRSTET.

„Ich komme am Monatsende, wenn Hartz IV aufgebraucht ist“,
erklärt Thomas, einer der regelmäßigen Besucher.

An einem Tisch löffeln nur Männer ihre Suppe, alle sauber gekleidet mit einem gepflegten Äußeren. „Ich komme am Monatsende, wenn Hartz IV aufgebraucht ist“, erklärt Thomas. Sein Nachbar erzählt, dass er hier vorbeischaut, wenn er in Chemnitz ist: „Das Essen passt. Die Schwestern sind nett.“ Und wenn es die Küche nicht gäbe? „Dann müsste ich hungern“, antwortet er. „Dann müsstest du mausen“, meint ein anderer am Tisch. Schükrü aus der Türkei findet es gut, dass er hier gemütlich essen kann, wie er sagt. Er versteht allerdings nicht, dass andere hierherkommen dürfen, die seiner Meinung nach ihr Biergeld sparen wollen.

 

Willkommen ist auch, wer Alkoholprobleme hat

Evelin Beckmann gehört nicht dazu. „Ich bekomme 621 Euro Rente. Davon muss ich Miete, Versicherung und Tod und Teufel bezahlen. 140 bleiben da übrig. Ich kauf nur, was in der Werbung ist. Trotzdem reicht das nicht“, sagt die zierliche alte Dame und packt noch etwas fürs Abendessen ein.

Nach einer halben Stunde ist der Saal beinahe leergefegt. Schwestern und Helfer räumen das Geschirr weg und spülen es mit der Hand, stellen die Stühle hoch und wischen den Saal. Alles ist in Windeseile wieder sauber und ordentlich. „Mutter Teresa hat gesagt: Cleanliness is next to Godliness“, erinnert Schwester Pauline an Worte ihrer Ordensgründerin – Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfurcht. Alles ist wieder hergerichtet für den nächsten Tag. Jeder ist willkommen. Auch die Gäste mit Alkoholproblemen. „Wir nehmen jeden Menschen so an, wie er ist“, sagt Schwester Pauline, „Gott vergibt hundertmal, tausendmal. Wir müssen auch so ein großes Herz haben.“

Von Gert Friedrich