10.09.2013

Warum liefert Lot seine Töchter aus?

Was bedeutet der Satz von Lot in Genesis 19,6f: „Ich habe zwei Töchter … tut mit ihnen, was euch gefällt.“? Über einen solchen Satz muss man doch stolpern.
B. B., B.

Ja, Sie haben Recht: Dieser Satz ist anstößig. Wie kann ein Vater seine Töchter ausliefern wollen, möglicherweise zu sexueller Gewalt? Aber wie das bei der Bibel so ist: Man muss genauer hinschauen:
Die Katastrophe von Sodom und Gomorra ist schon in der Entstehungszeit des Textes eine allseits bekannte Geschichte „aus grauer Vorzeit“, eine Sage, die erklärt, wieso es am Toten Meer so wüst und leer und salzig ist (Lots Frau erstarrt wenig später zur Salzsäule). Die Geschichte, die wir im Buch Genesis finden, erzählt nun den damaligen Menschen, wie und warum es zur Zerstörung kam – und macht das mit Blick auf die Abrahamsgeschichte, in deren Umfeld dieses Kapitel steht.
Was waren nun die Missetaten der Einwohner? Niemand weiß es genau, deshalb wählt das Buch Genesis ein Beispiel, eine einzelne Freveltat – und das ist der Verstoß gegen das Gastrecht, das damals sehr, sehr wichtig war. Im Kapitel zuvor hat Abraham zwei Männer, die sich dann als Engel entpuppen, vorbildlich bewirtet – so wie es das jüdische Gastrecht verlangt. Anschließend wandern die Männer weiter nach Sodom und kommen am Abend dort an. Offenbar fühlt sich niemand außer Lot zuständig, die Fremden aufzunehmen – der erste Verstoß. Und schlimmer: Die Sodomiten umlagern später das Haus des Lot und bedrohen die Fremden; eine randalierende Menge, die allen anderen Angst einjagt. Lot sieht sich in dieser Situation in nur einer einzigen Pflicht: Das Gastrecht verlangt von ihm, die Fremden um jeden Preis zu schützen. Der damalige Ehrenkodex verlangt, eher die „Familienehre“ preiszugeben als seine Gäste. Deshalb bietet er an, seine Töchter hinauszuschicken.
Um was mit ihnen zu tun? Vielleicht hatte Lot in die Männer Sodoms noch einen letzten Rest Vertrauen, der in der Einheitsübersetzung der Bibel so nicht erkennbar ist. Bibelwissenschaftler übersetzen den entscheidenden Satz nämlich nicht mit: „Tut mit ihnen, was euch gefällt“, sondern mit „... wie es euch gut erscheint“. Dass allerdings das Gastrecht damals höher stand als der Schutz der eigenen Töchter – das bleibt für uns heute sicher unverständlich.
Susanne Haverkamp