03.07.2014

Wen verstehen Juden unter dem „Gottesknecht“?

Wer ist der „Gottesknecht“ in jüdischer Auslegung – heute und zu Jesu Zeiten? W. S., Dresden

Für Christen scheint die Figur des Gottesknechts aus dem Buch Jesaja liturgisch festgelegt zu sein: Passionsgeschichten Jesu legen uns nahe, dass Jesus dieser Gottesknecht ist, der, der durchbohrt, misshandelt wurde, aber gerecht blieb und von Gott gerettet wurde. Jedoch sind aus jüdischem Blickwinkel ganz andere Deutungen möglich.

Vor allem der Zusammenhang des ersten Lieds vom Gottesknecht lässt einen ganz anderen nach vorne treten: Kyros, den König der Perser. Er sorgte nach dem Exil der israelitischen Oberschicht in Babylon dafür, dass in Israel wieder ein Volk sein durfte und Gottesdienst möglich war. 

Doch in den folgenden Gottesknechtsliedern wird das Bild verschwommener: Der beschriebene Retter, der Messias, lässt sich nicht mehr einfach einer Person zuschreiben. Verschiedene Namen wurden schon von den alten Rabbinerschulen bis ins Mittelalter hinein ins Spiel gebracht. Meistens wurden die Namen aus anderen Schriftversen abgeleitet wie im folgenden Midrasch: „Rabbi Jannai sagte, er heiße ‚Jinon‘, denn es heißt: ‚Im Angesicht der Sonne wird sein Name sprossen [jinon]‘ (Psalm 72,17).“ In der Schule Rabbi Chaninas sagten sie, er heiße ‚Chanina‘, denn es heißt: ‚Ich werde euch kein Erbarmen [chanina] schenken‘ (Jeremia 16,13).“

Für den großen mittelalterlichen Gelehrten Raschi war der Gottesknecht einerseits Jesaja selbst, gleichzeitig aber entdeckte er in Jesaja 53 die Möglichkeit, den Gottesknecht im Angesicht der Kreuzzüge als das Volk Israel schlechthin zu deuten. Obwohl das Volk unter den marodierenden Kreuzrittern leide, erwarte es am Ende die Rettung. Wie der Gottesknecht, so leide Israel stellvertretend (immer wieder) für die Menschheit.

Diese Art der Deutung ist bis heute präsent geblieben. Ignaz Maybaum, einer der führenden jüdischen Theologen des 20. Jahrhunderts, stellte folgende These auf: der Holocaust sei die ultimative Form der stellvertretenden Versöhnung. Das jüdische Volk sei tatsächlich der leidende Knecht des Jesaja geworden, es leide für die Sünden der Welt.

Christoph Buysch