01.02.2012
Wie sind Jesu Worte zu verstehen?
Sind die Worte im Neuen Testament wörtlich zu verstehen oder sind es inhaltliche Wiedergaben der Evangelisten, die ja keine Zeitzeugen von Jesus waren?
F.T. Gernsheim
Zu dieser Frage lassen sich einerseits ganze Bücher schreiben. Andererseits ließe sich mit einem Satz antworten: beides – und ganz sicher ist sich keiner, da bei Jesu Reden kein Tonband mitlief. Aber selbst, wenn ein Mikrofon Jesu Reden und Dialoge aufgezeichnet hätte, wäre zu klären, was mit „wörtlich“ gemeint ist. Denn wenn Jesus ein Gleichnis erzählt hat, dann meinte er das nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn. Bis heute gilt: Wer alle Äußerungen eines Menschen wörtlich versteht, versteht vieles falsch. Seine Zuhörer damals wussten das und auch jene, denen von Jesus aus zweiter Hand erzählt wurde.
Mit der anderen Bedeutung von „wörtlich“ könnte man fragen: Sind die Wiedergaben in den Evangelien wortwörtliche Zitate? Darauf wird man antworten müssen: Einige Sätze sind wörtliche Zitate, viele andere sind redigierte Zusammenfassungen der Evangelisten. Das lässt sich oft anhand von Formulierungen, Vokabeln oder Erzählinteressen sagen, die für den einen oder anderen Verfasser typisch sind.
In einer Gesellschaft aber, in der Wissen und Nachrichten – anders als heute – überwiegend mündlich weitergegeben wurden, hatte das gesprochene Wort mehr Gewicht. Damals wurden Aussagen recht verlässlich weitererzählt, oft in sehr ähnlicher Formulierung. Dennoch lässt sich heute kaum hundertprozentig entscheiden, was Jesus im Einzelfall genau gesagt hat. Das muss aber auch nicht.
An einer Stelle sagt er: „… wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,50, bei Markus lautet der Satz „Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (3,35) und bei Lukas „Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln“ (8,21).
Wie genau Jesus diesen Satz formuliert hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber sehr wohl, was er damit sagen wollte. Und das gilt allgemein: Wir wissen sehr wohl, was Jesus meinte, was sein wesentlicher Wille war. Und den gilt es zu tun.
Roland Juchem