14.06.2022
Missbrauchsstudie im Bistum Münster
Blick auf "systemische Faktoren"
Im Bistum Münster werden rund vier Prozent der Priester im Untersuchungszeitraum des Missbrauchs beschuldigt.
Über 600 Betroffene, ein Dunkelfeld, das auf das Acht- bis Zehnfache geschätzt wird und Bischöfe, die vertuscht haben: Das ist das Ergebnis einer Studie zum sexuellen Missbrauch durch Geistliche im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020. Sie wurde von der dortigen Universität angefertigt. Die Forschenden um die Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht zeigten sich indes nicht nur fassungslos angesichts der Zahlen, sondern auch angesichts eines Systems, das immer wieder Leid von Kindern und Jugendlichen ermöglicht hat.
Im Untersuchungszeitraum sind rund vier Prozent aller Priester in der Diözese des Missbrauchs beschuldigt. Fünf Prozent der Beschuldigten seien als Serientäter einzustufen. Neun von zehn Beschuldigten hätten keine strafrechtlichen Konsequenzen erfahren. Die Taten reichten von als grenzverletzend empfundener Kommunikation über Berührungen bis hin zu schwerer Vergewaltigung.
Die neuen Zahlen liegen um ein Drittel höher als in der 2018 vorgestellten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz. Die Wissenschaftler, die das Bistum Münster 2019 mit dem Auftrag einer unabhängigen Untersuchung beauftragt hat, erklärten dies mit einem anderen Erfassungszeitraum und unterschiedlicher Methodik. Viele Betroffene hätten sich zudem erst später gemeldet.
Ob die katholische Kirche ein "Hotspot" sexuellen Missbrauchs sei, lasse sich aufgrund fehlender Untersuchungen etwa bei Sportvereinen nicht sagen, erklärte Großbölting. "Sehr bestimmte Abhängigkeits- und Machtverhältnisse" in der Kirche ließen aber von einem "spezifisch katholischem Gepräge des Verbrechens" sprechen.
Die Tatorte verorten die Forschenden mitten in der Gemeinde - etwa in der Jugendarbeit und bei den Messdienern -, in Schulen und kirchlichen Heimen und im Sozialraum von Familien. Zwei weitere Orte machten sie ausfindig, die zugleich das Spezifikum in der katholischen Kirche markieren: Den Kontext der Beichte sowie der spirituellen Vertrauensbeziehung. Die Wissenschaftler bezeichnen dies als "Setting der besonderen pastoralen Macht".
Mit ihrer Analyse unterscheidet sich die Münsteraner Studie von juristischen Gutachten, wie sie etwa in den Erzbistümern Köln und München vorgelegt worden sind. Sie richtet stärker den Blick auf "systemische Faktoren", die den Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigen. Dazu zählen etwa eine "Bigotterie", die von der katholischen Sexualmoral hervorgerufen werde, und das Priesterbild. In den Gemeinden vor Ort sei die Vorstellung des Priesters als "heiliger Mann" so fest verankert, dass auch Laien Missbrauch vertuschten. So ließen nicht nur die Bistumsverantwortlichen in einem Dorf den "Grabbel-Pastor" und "Streichel-Helmut" gewähren, sondern auch die Gemeindemitglieder.
Keine Empathie für Betroffene
Die kirchliche Führungsspitze zeigte wenig bis keine Empathie für Betroffene, dafür umso mehr Verantwortung für die eigenen Mitbrüder: Als "Ekklesiozentrik" bezeichnen die Forschenden dies - also als Fixierung auf die Kirche als heilige Institution, die es zuvorderst zu schützen gilt. Bis heute werde kaum über Machtfragen diskutiert, bemängelten die Forschenden - und forderten mehr kritische Diskurse, wie sie der deutsche Reformprozess Synodaler Weg führt, der seinerseits innerkirchlich immer wieder auf Kritik gerade aus konservativeren Lagern stößt.
Über Jahrzehnte habe es ein "eklatantes Führungs- und Kontrollversagen der Personalverantwortlichen" gegeben. Manchmal reichte der Schutz der Institution gar bis zur Strafvereitelung, was ein spektakulärer Fall zeigt, der in die Amtszeit des späteren Kölner Kardinals Joseph Höffner zurückreicht.
Mit Hilfe von Caritas international sei ein beschuldigter Priester ins Ausland geschickt worden, um so der deutschen Strafverfolgung zu entgehen. Höffner habe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) entsprechende Kontakte aufgebaut - ausgerechnet jener bischöflichen Versammlung, in der die Kirche über ihre Stellung in der modernen Welt debattiert und wegweisende Öffnungen beschlossen hat.
Doch auch allen anderen Bischöfen seit 1945 weist die Untersuchung Vertuschung nach. Erst dem aktuellen Bischof Felix Genn (72) bescheinigt sie einen Fortschritt beim Umgang mit Missbrauchsfällen. Auch ließe die Bistumsleitung einen ernsthaften Willen zur Aufarbeitung erkennen. Gleichwohl habe der seit 2009 amtierende Oberhirte eine längere Phase gebraucht, um seiner Verantwortung für Intervention und Prävention gerecht zu werden.
Dass es nun zu einer Aufarbeitung in der Kirche komme, sei weniger einer eigenen Motivation und vielmehr dem Druck von außen geschuldet, so die Forschenden. Nach wie vor berichteten Betroffene von Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Bistum - bis hin zur Retraumatisierung.
kna