11.09.2012
Kommentar
Glauben dürfen
Von Ulrich Waschki
Die Fälle, die derzeit vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verhandelt werden, lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Wie sehr geht es um Religionsfreiheit? Geht es vielleicht auch um Geld? Das ist von außen nicht so ganz einfach zu beantworten. Auch hätte längst nicht jeder Christ aus den konkreten Konflikten der vier Kläger mit ihren Arbeitgebern eine „Glaubensfrage“ gemacht. Dennoch zeigen diese Fälle eins: Dass wir in Europa Religionsfreiheit auch in der Weise genießen können, dass wir uns öffentlich zu einer bestimmten Religion bekennen dürfen, ist nicht selbstverständlich.
Es gibt zunehmend Tendenzen in Europa und auch in Deutschland, öffentliche Religionsausübung zurückzudrängen und die Religion ins Private zu verbannen. Und auch davor machen militante Atheisten nicht halt: In der Debatte um die Beschneidung etwa sind Argumente zu hören, die jenseits der Frage der körperlichen Unversehrtheit kritisierten, dass Eltern durch die Beschneidung ihren Kinder eine Religion vorgeben. Das dürften Eltern nicht, Kinder sollten sich später frei entscheiden, meinten einige. Mit diesen Argumenten kann man auch schnell die christliche Kindstaufe in Zweifel ziehen.
Ob Moscheebau, Beschneidung oder Religionsunterricht: Die Akzeptanz des religiösen Bekenntnisses ist gefährdet. Das liegt natürlich auch daran, dass viele Menschen mangels eigener Erfahrung den Sinn von Gebet und Gottesdienst nicht verstehen und Religion wie jede andere Sache beurteilen.
Doch Religionsfreiheit bedeutet eben nicht nur, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Religion frei zu wählen oder sich auch gegen jegliche Religion zu entscheiden. Zur Religionsfreiheit gehört ebenso das Recht, seine Religion auszuüben und zu leben, auch öffentlich. In Zukunft werden religiöse Menschen in Deutschland zusammenrücken müssen, um ihre Rechte einzufordern. So wie in Osnabrück, wo Christen, Juden und Muslime gemeinsam eine Grundschule prägen.
Der Staat ist weltanschaulich neutral, er hat keine Religion. In der Frage, ob es Gott gibt und wie man sich Gott vorstellen kann, muss der Staat unentschieden sein. Und genau in diesem Punkt irren die militanten Atheisten: Ein Staat, der die Existenz Gottes verneint, den Atheismus zur Leitschnur macht, ist nicht mehr weltanschaulich neutral. Ganz abgesehen von der Frage, wie dieser Staat zu den Werten kommen kann, die das Zusammenleben seiner Bürger prägen.