22.08.2012
Mehr Lernen in weniger Zeit ist das Mantra unserer Bildungspolitik – mit fatalen Folgen
Schulstress lass nach!
Der alltägliche Stress-Wahnsinn hat wieder begonnen. Zumindest bei den Kindern, in deren Bundesländern die Sommerferien zu Ende gegangen sind. „Mehr Bildung in weniger Zeit“ ist das schulische Mantra unserer Zeit. Mit fatalen Folgen für viele Kinder.
Keine Arbeiten, keine Hausaufgaben, keine Referate. Caro ist entspannt. Noch. In einer Woche beginnt auch für die Elfjährige wieder die Schule. „Dann habe ich nur am Wochenende Zeit, mit Freundinnen etwas zu machen“, erzählt Caro, die in die sechste Klasse des Gymnasiums kommt.
Kinder haben Stress. Das belegen zahlreiche Studien seit Jahren. Genauso wie die Tatsache, dass es heutzutage schon Ausbildungen zum Antistress-Trainer für Kinder gibt. Und was sind die Folgen? Mehr als ein Drittel der Schüler, vor allem Mädchen, leiden unter Stress-Symptomen, wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafproblemen.
Nach dem PISA-Schock Ende 2001 war bundesweit mit vielen Reformen, allen voran der Einführung von G 8, die zukünftige Marschroute der deutschen Bildungspolitik klar vorgegeben: Mehr Bildung in weniger Zeit. Studien sprechen heute von 40 bis 45 Stunden-Wochen bei Jugendlichen.
„Es gibt heute mehr Kinder, die zu mir sagen: Ich schaffe das nicht“, erzählt Uta Klotz, Schulsozialarbeiterin am Erasmus-Gymnasium in Rostock. „Die können einfach nicht mehr, zeigen klare Burnout-Symptome.“ Das Burnout, Produkt der Leistungsgesellschaft, ist mittlerweile schon in den Kinderzimmern angekommen. Wer nicht gut genug lernt, aus dem wird nichts, wird vielen früh eingebläut.
"Vertrauen in die eigene Selbstständigkeit"
„Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen“, schrieb vor über 200 Jahren der Dichter und Pädagoge Jean Paul. „Kinder brauchen Zeit“, so lautet auch das Motto zum Weltkindertag im September in Deutschland. „Kinder brauchen für ihre Persönlichkeitsentwicklung die Erfahrung: Diesen Raum habe ich mir selbst erobert. Ein Vertrauen in die eigene Selbstständigkeit“, meint Holger Hofmann, Geschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes. Diese Erfahrungen können sie vor allem beim freien Spiel im Gelände machen und nur selten im Klassenraum mit all seinen Regeln.
Und was ist die Lösung? Kindern auch in der Bildung wieder Zeit zu geben. In vielen Bundesländern gibt es erste Ansätze. In Baden-Württemberg soll 2013 mit dem Modellprojekt „Abitur im eigenen Takt“ begonnen werden. Dabei sollen die Jugendlichen selbst entscheiden können, ob sie die Oberstufe in zwei oder drei Jahren absolvieren wollen.
An das Abitur denkt Caro heute noch nicht. Erst einmal ist wichtig, neben wem sie im neuen Jahr sitzen wird. „Ich hoffe schon, dass die sechste Klasse nicht so stressig wird wie letztes Schuljahr“, betont die Elfjährige. „Aber ich habe mir auch vorgenommen, mir nicht mehr so viel Stress zu machen, wenn es mit dem Lernen mal nicht so klappt“, sagt sie und zeigt die richtige Einstellung.
Von Daniel Gerber