22.08.2012
Das Leben ein Alptraum
Tony Nicklinson empfand sein Leben als Alptraum. Während in Deutschland über den neuen Entwurf zum Sterbehilfe-Gesetz debattiert wird, kämpfte der Brite online und vor Gericht dafür, dass er sterben durfe. Am Ende sprach Gott das Urteil.
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Nicklinsons Twitter-Seite |
Tony Nicklinson hoffte, dass am 16. August sein Todesurteil gesprochen wird. Die Richter des höchsten britischen Zivilgerichts sollten dann seinem Arzt erlauben, den 58-jährigen Briten legal zu töten. Nicklinson wollte sich gerne selbst umbringen, aber das konnte er nicht, denn er hatte das Locked-In-Syndrom. Das bedeutet, dass er geistig klar war, aber sein Körper nur noch eine Hülle war, in der er – fast vollständig gelähmt – eingeschlossen war. 2005 erlitt Nicklinson einen Schlaganfall. Seitdem war er in seinem Körper gefangen, konnte nur noch die Augen bewegen. Mit denen steuerte er einen Sprachcomputer. Sein Kontakt zur Welt.
„Hallo Welt, ich habe das Locked-in-Syndrom und dies ist mein allererster Tweet“, schrieb der Familienvater im Juni auf der Onlineplattform „Twitter“ [1]. Der Beginn seiner Internetkampagne, mit der er auf sein Schicksal aufmerksam machen wollte. Auf sein Anliegen, seinen Gerichtsprozess. Schon eine Woche nach seinem ersten „Tweet“ [2] (Kurznachricht) hatte er über 25 000 sogenannte Follower, Personen die seine Kurznachrichten im Internet lasen. Zeitungen und Fernsehsender wurden dadurch auf ihn aufmerksam, brachten Geschichten über ihn, interviewten ihn.
Immer wieder betonte er: Sein jetziges Leben sei ein „Alptraum“, erniedrigend und entwürdigend, früher sei er so aktiv gewesen. Nicklinson wollte deswegen legal sterben dürfen. Er zog vor Gericht. Dem Fernsehsender „BBC“ sagte er: „Ich verlange eine Ergänzung des Mordparagrafen, die es unter bestimmten Umständen erlaubt, einer anderen Person das Leben zu nehmen.“ Eine Online-Petition [3]seiner Frau sammelte für sein Anliegen Unterschriften.
Eine Möglichkeit, mit dem Leiden umzugehen
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Durch seine Online-Tätigkeit wurden viele Medien auf ihn aufmerksam und berichteten über seinen Fall. |
Nicklinson meinte, er tue das auch, damit andere Menschen nicht ein „ähnlich unwürdiges“ Leben führen müssten, wenn sie das nicht wollten. Seine Familie stand hinter seinem Wunsch zu sterben. In einem Interview erklärte seine Frau: „Ich habe meinen Mann vor sieben Jahren verloren.“ Und seine Töchter wünschten sich: „Lasst unseren Vater sterben.“
Ist die Debatte um die Sterbehilfe die eine Seite, so zeigt der Fall Nicklinson auch, wie das Internet vielen kranken Menschen neue Möglichkeiten bietet, mit ihrem Leiden umzugehen. Hier können sie öffentlich über ihre Krankheit sprechen, mögliche Anliegen publik machen.
So wie Anfang des Jahres beispielsweise die zwölfjährige US-Amerikanerin Jessica Rees [4], die im Internet ein Tagebuch führte, in dem sie über ihre Gehirntumorerkrankung schrieb. Es war ihr Weg, mit ihrem Schicksal klarzukommen. Gleichzeitig nutzte sie die öffentliche Bühne, um mit verschiedenen Aktionen anderen krebskranken Kindern Freude zu bereiten. Und ihr selbst wurde dabei Trost gespendet durch anteilnehmende Worte, die ihr Tausende Internetnutzer schickten.
Auch Nicklinson sendeten viele Menschen gute Wünsche und aufmunternde Worte. Einige fragten ihn auch, ob er nicht durch die Möglichkeiten des Internets, mit Hunderten Menschen in Kontakt zu treten, seinen Todeswunsch ändern könne. Doch Nicklinson stellte in mehreren Interviews klar, dass nichts und niemand ihn umstimmen werde. Dass er twittere sei zwar eine „nette Übung in menschlicher Interaktion“, aber sterben wolle er immer noch.
Die Richter sprachen am 16. August nicht sein Todesurteil. Er verlor den Prozess. Das Urteil war für den Briten niederschmetternd. Die Medien zeigten Bilder von ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sechs Tage später sprach dann Gott sein Urteil. Nicklinson starb. Seinen letzten "Tweet" schrieb seine Tochter für ihn: "Auf Wiedersehen Welt, die Zeit ist gekommen, ich hatte Spaß."
Ihr Webreporter Daniel Gerber