18.06.2015
Vom Hobby zum Satire-Imperium
Eine der bekanntesten und beliebtesten Webseiten Deutschlands war bis vor kurzem noch reine Liebhaberei, ein Hobby sozusagen. Doch nachdem der Postillon [1] 2013 den Grimme-Online-Award verliehen bekam, wurde aus dem einstigen Ein-Mann-Unternehmen eine Art Satire-Imperium. Mit Buch, eigenem Fernsehkanal und Hörfunknachrichten…
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"Selbstgestrickt". Das Logo vom Postillon (Screenshot: der-postillon.com) |
Der Postillon [1] ist – auf (un)gut Deutsch gesagt - eine einzige Verarschung. Eine Art-Medienpersiflage, könnte man etwas feiner formulieren. Nichts, aber auch nichts ist hier ernst gemeint. Und gerade weil vom Postillon alles und jeder durch den Kakao gezogen wird (auch unsere Kirche) kommt das Ganze offenbar gut an. Und zwar nicht nur bei den Lesern, Nutzern und Zuschauer. Auch beim deutschen „Hoch-Feuilleton“. Fast alle namhaften Zeitungen – von der FAZ [2] über den Spiegel [3] bis hin zur Zeit [4] - haben über den Postillon schon berichtet. Spätestens nachdem der Postillon 2013 mit dem begehrten Grimme-Online-Award ausgezeichnet wurde, könnte man sagen: Der Postillon ist angekommen! Seine Postings werden seither oft häufiger auf Facebook geteilt [5] als die Artikel auf Tagesschau.de oder FAZ.net zusammen. Bereits vor zwei Jahren verbuchte das Portal, das von der Genese eigentlich eher ein Blog ist, mit bis zu einer Million Besuchern pro Monat genauso viele Seitenzugriffe wie der Internetauftritt des Satiremagazins Titanic.
Wir berichten bevor wir recherchieren
Dabei steckt, und das ist beileibe kein Scherz, hinter dem Postillon eigentlich nur ein Mensch: Stefan Sichermann, ein ehemaliger Werbetexter. Als ihm 2008 ein Kollege erzählte, wie „cool“ es sei, einen eigenen Blog zu betreiben, dachte sich Sichermann, das kann ich auch, und schrieb alsbald seinen ersten Beitrag („Fakir im Schlaf verbrannt: von Nagelbettentzündung überrascht“). Da sein Geschreibsel gut ankam, machte Sichermann weiter. Oft entstanden die Artikel in der Mittagspause. Bis 2013 war Sichermann allein: Chefredakteur, Systemadministrator, Webdesigner, Gagautor, Fotoredakteur, Leserbriefredakteur, Rechtschreibprüfer und Anzeigenakquisiteur, alles in einer Person. Und fast immer erfolgreich. Mit seinen Artikelüberschriften - oft ironische, zynische oder gar bitterböse Zwischenrufe zum Zeitgeschehen („Erdoğan lässt Demonstranten so lange verprügeln, bis sie aufhören, ihn als autoritär zu bezeichnen“) - schrieb sich Sichermann recht rasch in die Herzen von Fans und Feuilleton. Orientiert hat sich der Werbetexter dabei stets an seinem Vorbild „The Onion [7]“. Die US-Zeitung verbreitet seit den 1980er Jahren falsche Schlagzeilen.
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alles nur geklaut.... (Bildschirmfoto der-postillon.com) |
Obwohl Sichermann nie programmieren gelernt, sich seine Webfertigkeiten nur „ergoogelt“ hat, und auch das Logo seines Portals selbstgestrickt ist (seine Freundin hat es gezeichnet), stiegen die Zugriffszahlen schell. Schon 2013 hatte Sichermann bei Facebook rund 140.000 Fans. Und ein Ende des Trends ist auch heute nicht in Sicht. Fast wöchentlich schafft es der Postillion in die „regulären“ Schlagzeilen. Zuletzt als der „unabsteigbare“ HSV das Motto seines Relegations- T-Shirts [8] einfach beim Postillon klaute. Kein Novum übrigens: Bereits 2012 hatte der Fernseh-Journalist Dieter Moor die Moderation für seine Kolumne „Schluss mit Moor“ - innerhalb der Sendung „titel, thesen, temperamente“ - beim Postillon abgekupfert... Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 wurde nach dem 7:1-Sieg der Deutschen gegen Brasilien eine Meldung des Postillons ausgerechnet vom einem russischen, wahrscheinlich Wodka-seligen Fernsehsender namens Rossija 24 [9] für bare Münze und ungeprüft weiterverbreitet. Der Postillon hatte gemeldet, dass ein Kneipenwirt, der für jedes deutsche Tor eine Lokalrunde versprochen hat, pleite gegangen sei.
Auch die Kirche bekommt hier öfters mal „ihr Fett weg“
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Gefälschte dpo-Meldung (Screenshot: der-postillon.com) |
Und weil Sichermann eine Webseite allein längst nicht mehr reicht, macht der Postillon heute auch Hörfunknachrichten [10]. Auf YouTube betreibt er einen eigenen Fernsehkanal [11]. Motto. „Wir berichten bevor wir recherchieren“ Sogar die Laufschriften unter dem aktuellen Programm haben es in sich. Pünktlich zur Bescheidungsdebatte im Bundestag etwa lief hier am unteren Bildrand die Meldung: „Schneidet gut ab. Gemeinde zufrieden mit neuem Rabbi“. Auch ein Buch [12] von Sichermann ist natürlich längst erschienen.
Ja, der Postillon ist böse. Auch die Kirche bekam von Sichermann schon öfters mal ihr Fett weg, etwa wenn der Postillon frech und wenig fromm behauptet, die katholische Kirche habe jetzt das „Kondom danach“ als Verhütungsmethode [13]zugelassen. Oder vor Jahren schon meldete, der Europäische Gerichtshof habe entschieden; dass die Kirchen ab sofort für unerfüllte Gebete haften müsse [14]…
Irgendwann, auch das soll hier keinesfalls verschwiegen werden, hat sich natürlich alles irgendwie verbraucht. Zu vorhersehbar sind oft die Witze. Vor allem in jüngster Zeit wirken etliche Meldungen doch überaus gewollt, bemüht. Aber so ist das halt, wenn man meint, tagtäglich berichten zu müssen. Oder anders formuliert. Man merkt dem Postillon heute doch recht deutlich an: Aus dem Hobby ist längst Arbeit geworden. Ein Broterwerb.
Ihr Webreporter Andreas Kaiser